Weshalb Scham nie ein guter Berater ist, wie sie entsteht, wirkt und was es stattdessen braucht.
Vor einiger Zeit wurde ich auf eine Broschüre der Diakonie aufmerksam gemacht. Darin hieß es, dass es unterschiedliche Arten der Scham gäbe und Scham auch als eine Art Würde Kompass gesehen werden könne. Dann, wenn sie nicht durch eine äußere Beschämung hervor gerufen werde. Weiter hieß es auch, dass Scham angeboren sei.
Das die meisten von uns, mit der Emotion Scham vertraut sind, ist wohl klar.
Und das es möglich sein dürfte, dass sie uns durch unsere Gene weiter gegeben werden kann, ist auch inzwischen bekannt. Dass sie tatsächlich von Natur aus angeboren ist, bezweifle ich stark.
Meine Erfahrung ist:
Scham ist eine Stimme in uns, die von außen initiiert wurde. Durch Menschen, die uns in frühester Kindheit suggeriert haben, dass wir so, wie wir gerade sind, falsch sind. Dafür reicht schon ein Blick, die Intonation der Stimme oder die Körpersprache. Ein Kind bildet sein Selbst durch Resonanz. Es trennt nicht zwischen Verhalten und Person. Es nimmt alles persönlich. Wenn sein Selbstausdruck von seinen Bezugspersonen kritisiert wird, lernt es, dass es selbst falsch sei und spaltet seine eigenen Empfindungen mehr und mehr von sich ab. Es lernt sich selbst und seinem eigenen Empfinden zu misstrauen.
Es nimmt das Fremde als das Eigene an. Es wird zu einem Projekt der Erwachsenen, einem Objekt.
Später wird die Stimme der Kritik der anderen mehr und mehr zu einer eigenen inneren Stimme. Der Kontext, sich von den anderen beschämt zu fühlen, bleibt aber bestehen. So ist jede Scham immer eine Beschämung, die wir unbewusst auf die Menschen um uns projizieren. Sie müssen uns also gar nicht mehr beschämen, damit wir uns beschämt fühlen.
Wir können das auch ganz leicht nachprüfen. Wir brauchen uns nur in eine Situation zu versetzen, in der wir Scham empfinden, ohne von außen beschämt zu werden.
Was fühlst du?
Welche Bilder/ Szenarien steigen in dir auf?
Woher kommt die Stimme oder vielleicht sogar die Stimmen, die dich beschämen und dir sagen, dass es falsch ist, was du tust?
Wo um dich herum imaginierst du diese Stimme(n)?
Wie groß ist sie/sind sie?
Und wie groß ist dein Selbstbild in diesem Moment?
Aus welcher Haltung triffst du deine Entscheidungen in dem Moment, in dem du Scham empfindest?
Wie konstruktiv kann eine Entscheidung sein, die aus einer Angst des Ausschlusses, einer Angst vor einer Entwertung heraus getroffen wurde?
Menschen machen Fehler. Doch sollte das niemals ihr Selbstbild schmälern. Sonst lernen wir, dass Fehler schlecht sind. Dass wir keine Fehler machen können, ohne unsere Würde zu verlieren. Dann wird unser ganzes Leben schambesetzt und von der Scham geleitet. Dann werden wir fremdgelebt, weil unser Autonomiebedürfnis untergraben wird.
Unter dem Empfinden von Scham ist kaum eine neutrale und konstruktive Reflexion möglich. Denn das eigene Empfinden muss ja unter dem Gefühl der Scham abgespalten werden, um überleben zu dürfen/können. – Nicht umsonst heißt es: „Ich könnte vor Scham in den Boden versinken.“ – Es wird in jedem Falle als falsch deklariert und somit können keine dahinter liegenden, persönlichen Bedürfnisse, Grenzen oder Werte liebevoll betrachtet werden.
Scham entsteht immer dann, wenn ich mich in meiner ganzen Person falsch und unwürdig fühle.
Dabei sollte es darum gehen, unser Verhalten von unserer Person trennen zu können, um eben das Selbstgefühl zu erhalten und Zugang zu dem eigenen Selbst zu haben, ohne Scham zu empfinden.
Wenn das eigene Selbst schambesetzt ist, werden wir abhängig von äußeren Autoritäten. Das endet in der Regel nicht gut.
Wir misstrauen dann unserer eigenen Intuition. Haben Schwierigkeiten, persönliche und soziale Verantwortung zu übernehmen, und richten uns überwiegend nach dem aus, was von denen, die gerade die Macht haben, als gut und richtig deklariert wird.
Wir werden somit gehorsam.
Ein Jugendlicher, der mit Scham aufgewachsen ist, kommt nun in seine Peergroup, in der die Regeln gelten, zu trinken und zu rauchen. Er wird automatisch deren Regeln übernehmen. Dann schämt er sich, wenn er nicht mitmacht.
Ein Jugendlicher, der seinen Selbstwert frei von Scham bilden durfte und dessen Grenzen respektiert wurden, dessen „nein“ nicht kritisiert und verharmlost wurde, wird auch jetzt kein Problem haben, „nein“ zu sagen. Denn er wird sich nicht als Mensch beschämt fühlen, nur weil die anderen ihn dafür versuchen zu beschämen. Er weiß intuitiv, dass sich ihre Reaktion nur auf sein Verhalten bezieht und es ihm dennoch als Mensch in seiner Integrität weder verletzen noch gefährlich werden kann. Er kann, frei von Konventionen, seine eigenen Werte bilden und leben und dadurch auch die Verantwortung dafür übernehmen.
Folge ich hingegen meiner Scham und handele schamkonform und am Ende stellt sich heraus, es wäre doch besser gewesen, ich wäre meinem Impuls gefolgt, werde ich zumindest einen Teil der Verantwortung an die Gesellschaft abgeben.
„Ich habe mich ja nur gesellschaftskonform verhalten.“
Jede Art von Moral oder Regeln ist ein äußeres Konstrukt, was sich über den Menschen stellt.
Es ignoriert somit den Prozess einer Gruppe und die Bedürfnisse des Einzelnen. Jesper Juul sagt: „Je besser sich das Individuum einer Gemeinschaft definiert, umso besser geht es der Gemeinschaft.“
Dazu gehört es auch, dass jeder seine Bedürfnisse und Grenzen aufzeigen und seine Werte finden und leben darf. Solange wir uns an von außen auferlegte Regeln und Werte halten müssen, um Beschämung zu verhindern, verhaften wir in einem inneren unbewussten Konflikt. Das eigene gegen das fremde Äußere, um zu überleben.
Wir untergraben somit sogar unsere eigne Würde, um der Scham, die immer auch Beschämung ist, zu entgehen und damit dem vermeintlichen Tod.
Eine Entwürdigung findet somit so oder so statt. Wir spalten sie nur von uns ab, um unser Überleben zu sichern.
Dabei kommen wir ohne Beschämung viel besser aus. Denn ohne Kritik lernen Kinder wesentlich besser, mit sich selbst und anderen Mitgefühl zu haben. Und Mitgefühl ist der bessere Kompass, um uns und anderen ihre Würde zu erhalten. Denn er lässt uns frei von Scham eine würdevolle Entscheidung treffen.