Sie brüllt mich an, irgendwann brülle ich zurück.
Wütend rennt sie in ihr Zimmer und wirft mit einem lauten Rumms die Tür hinter sich zu.
Auch ich bin auf 180, in mir kocht die Wut. Ich will nicht, dass sie mich so anbrüllt. Sie hat kein Recht dazu. Mein eigenes Kind benimmt sich so respektlos mir gegenüber.
Es tut weh, wenn das eigene Kind so ungerecht wird. Wenn die Menschen, die man mehr liebt als alles andere, über die eigenen Grenzen treten, ohne mit der Wimper zu zucken.
Und gleichzeitig spüre ich auch ihren Schmerz hinter ihrer Wut.
Die Wut in mir will hinter ihr her, will sie zurechtweisen. Doch etwas in mir ist stärker. Es ist wie ein innerer Kompass. Ich setze mich auf die Bank im Flur gegenüber ihres Zimmers. Ich spüre in mich hinein, spüre die Wut. Im ersten Impuls möchte ich sie wegdrücken. Doch dann gebe ich ihr Raum in mir. Ich lasse sie einfach da sein. Ich beobachte sie und ich beobachte mich, wie ich dort sitze und auf die Tür schaue und auch den Schmerz meines Kindes und ihre Wut da sein lasse.
Und ja, es ist im ersten Moment unangenehm und gleichzeitig wächst in mir eine Kraft. Ich fühle mich nicht mehr als Opfer oder Täter. Ich fühle im Gegenteil, dass Verantwortung mir die Macht gibt, mein Leben auf wundervolle Weise selbst zu gestalten. In diesem Moment bin ich nicht mehr Opfer meiner Emotion. Ich bin der Gestalter, der die Führung inne hat.
Ich bin das Zentrum, aus dem sich mein Leben entwickelt. Ich bin die Veränderung, die ich in der Welt sehen will. Die Welt spiegelt mir mein Selbst, welches sich in ihr ausdrückt.
Ich bin dankbar für diesen Moment. Denn auch wenn er schmerzhaft ist, trägt er in sich so viel Heilung. Ich wachse in diesem Moment über mich hinaus und darf erfahren, wie uns das Leben erfüllt, wenn wir es in seinem So-sein annehmen lernen. Nicht die Wut lässt mich wütend reagieren, sondern ihr hadern mit ihr. Lasse ich sie in mir sein, wird sie zu einer wundervollen kreativen und transformierenden Kraft. Ich erkenne was hinter meiner Wut steckt. Wo auf meinem Weg ich den Zugang zu mir selbst verloren habe und meine eigenen Bedürfnisse, meine Grenzen nicht gesehen habe. Das ich versäumt habe rechtzeitig für mich zu sorgen. Und wo ich vor allem meinen eigenen Werten nicht gerecht wurde. Wo ich nicht aus dem Herzen, sondern aus meinem Schmerz, meiner Verletztheit heraus gehandelt habe. Dieses erkennen verbindet mich wieder mit mir selbst.
Irgendwann spüre ich den Impuls aufzustehen und an ihre Tür zu klopfen.
Und es braucht nur wenig Überwindung, die Verantwortung für mein Fehlverhalten zu übernehmen und mich dafür bei ihr zu entschuldigen. Und plötzlich ist da dieses Empfinden von maximaler Kohärenz, von Stimmigkeit meiner eigenen Integrität. Es ist völlig unwichtig, wie sie reagiert. Viel wichtiger ist, dass ich mir, meinen Werten treu bleibe und mich dementsprechend verhalte.
Immer noch etwas grummelnd, steigt sie in einen Dialog mit mir ein. Auch wenn wir uns nach wie vor nicht einig sind, sind wir jetzt in Beziehung.
Reibung erzeugt (auch) Wärme.