Mit halb zugebundenen Schuhen 

Mit halb zugebundenen Schuhen hebt sie ihre Jacke auf, die zerknäult auf dem Boden liegt, und verlässt im Laufschritt das Haus.

Ich schaue ihr nach und denke mir: „Wo ist nur die Zeit geblieben?“ Nun ist sie fast schon erwachsen und ich reiche ihr gerade mal bis an ihre Schultern. Ich muss zu ihr aufschauen, wenn ich mit ihr rede. Wirklich ein seltsames Gefühl, zu seinem eigenen Kind auf zu schauen und zu sagen: „Das, was du da gerade machst, entspricht nicht meinen Werten.“

In Anbetracht dieser Gedanken fühle ich mich unwohl. Ich schüttele, mich, um sie los zu werden, und gehe in die Küche, um mich meinem Tee zu widmen, der inzwischen kalt geworden ist.

Pubertät, ein Wort, das oft Grauen in uns hervorruft, als wäre es eine Seuche.

Meist sind wir so vorbelastet durch das Konstrukt, welches gesellschaftlich damit verbunden ist, dass wir gar nicht mehr frei sind, unsere Kinder wohlwollend und entspannt durch diese Phase zu begleiten.

Ist uns bewusst, wie wir unsere Kinder durch dieses vorgefertigte Bild beeinflussen? Sie haben bald keine andere Wahl, als diesem zu entsprechen. Wir blicken auf sie durch die Brille unserer Erwartungen und sehen durch unsere subjektive Wahrheit, was wir sehen wollen.

Dabei dürfen wir uns die Frage stellen, ob wir überhaupt wollen, dass sie erwachsen werden.

Dass sie eigene Sichtweisen und Werte entwickeln. Dass sie alles in Frage stellen, was wir ihnen vermittelt haben.

Wir sind schon lange nicht mehr der Nabel ihrer Welt und das kränkt uns. Es ist schwer loszulassen und zu erkennen, dass unsere Kinder eben nicht unsere Kinder sind, sondern zu eigenständig denkenden Wesen heranwachsen. Sie streifen ihren Kokon ab und prüfen auf Herz und Niere, was für sie brauchbar ist von dem, was wir ihnen – in bester Absicht – haben angedeihen lassen.

Spätestens jetzt geht es darum, vertrauen zu lernen. Denn das ist es, was unsere Kinder neben Liebe und Beziehung am meisten brauchen. Unser Vertrauen in ihre Kraft und innere Weisheit, ihr Leben selbstständig und frei gestalten zu können.

Wir sind mehr und mehr nur noch der Zug auf dem Reservegleis, der nur im Notfall den Bahnhof verlässt. Spätestens jetzt dürfte uns klar werden, dass unsere Kinder nicht unser Leben sind. Sie haben mehr und mehr ihr eigenes Leben, welches wir eine Zeitlang sehr intensiv begleiten durften. Und diese intensive Zeit ist nun für immer vorbei. Der Zeitpunkt naht, da wir nur noch auf Stippvisite, nur noch auf Besuch im Leben unserer Kinder vorbeischauen dürfen.

Und es wird Zeit, unser Leben, jenseits von Mama und Papa, wieder in unsere Verantwortung zu nehmen und aktiv zu leben.

Ein Zitat von Jesper Juul klang in etwa so: Die Eltern sollten sich bei einem Glas Rotwein hinsetzen und entspannen und ihre Kinder genießen. Die Zeit der Erziehung sei nun endgültig vorbei.

Irgendwann hat es bei mir Klick gemacht und meine Perspektive hat sich grundlegend geändert.

Ich sehe interessiert und neugierig auf die Zeit der Pubertät. Sie ist faszinierend und einzigartig.

Eine heilige Rebellion zu Gunsten des ursprünglichen Eigenen, die Frage nach „Wer bin ich?, Hinter meiner Prägung?“ Diese ganze Verwirrung und das Chaos, aus dem etwas völlig Neues entstehen kann. Zu keiner anderen Zeit stürzen wir uns so unbedarft und mutig von hohen Klippen in die undurchsichtige Tiefe. Nur um unseren Idealen Spuren folgen zu lassen. Unser Wagemut bringt uns an unsere Grenzen, erweitert sie aber auch. Kein Stein bleibt auf dem anderen. Die Schutzmauer der Kindheit fällt in sich zusammen und zum ersten Mal erleben wir, wie es ist, wahrhaft auf eigenen Füssen zu stehen, ohne durch Kooperation die Eltern im Rücken zu halten. Wir Entern unser eigenes Schiff, um es hinaus in die Wellen unseres eigenen Lebens zu dirigieren.

Viele von uns sind ihrer eigenen Integrität, ihren eigenen Bedürfnissen, Werten und Grenzen nie mehr so nah wie in ihrer Pubertät. Der Zeit des Umbruchs und des Aufbruchs.

Hier kann eine tiefe Auseinandersetzung stattfinden, die mitunter zwar schmerzhaft, aber auch sehr heilsam und klärend wirken kann. Dafür braucht es aber Erwachsene, die loslassen, vertrauen und ihr eigenes Leben leben. „Ich vertraue Dir, dass du DEINEN Weg findest, und bin da, wenn du meine Unterstützung brauchst.“

Es braucht Erwachsene, die ihre Werte ohne erhobenen Zeigefinger an den Jugendlichen herantragen. Und sich dem Dialog zwischen Austausch und Auseinandersetzung stellen.

Da ist jetzt ein Mensch mit eigenen Vorstellungen vom Leben, der nun endgültig seine eigenen Fehler machen will, um aus seinen Erfahrungen eigene Schlüsse zu ziehen und aus den Fehlern zu lernen.

Meine Haltung hat da nur Gewicht, wenn sie wirklich halt-bar und nachhaltig ist.

Für uns Erwachsene ist es die Chance, nochmal selbst einzutauchen in unsere eigenen Untiefen und uns erneut die Frage zu stellen: „Wer bin ich?“ und „Wer wollte ich sein? Bin ich zu diesem Menschen geworden? Bin ich mir treu geblieben auf meinem Weg? Oder habe ich mich verleiten lassen, von anderen, dem System, den Medien etc.? Lebe ich, was ich predige? Was will ich in meinem Leben noch umsetzen, machen, erfahren, erreichen? Was erfüllt mich? Was will ich in meinem Leben behalten und was gehen lassen?“

Meine Besinnung auf mich selbst lässt dem Jugendlichen Raum, sich selbst zu finden. Mein Vorbild, ohne Erwartung auf Nachahmung, wirkt wie eine Bestätigung des eigenen Eintauchens und Klärens.

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