Es ist der 25.Juli 21.30 Uhr
Soeben höre ich von Jesper Juuls Tod. Und mir wird bewusst, wie lebendig er jetzt durch seine vielen Bücher ist. So präsent stehen sie in meinem Bücherregal wie nie zuvor, als wäre er selbst hier. Sein Wirken hat so viel Eindruck hinterlassen, dass er nach wie vor bei uns ist.
Gerade durch seine natürliche, etwas brummige Art, mit ganz normalen Ecken und Kanten, erreichte er tausende von Menschen mit seiner Vision einer gleichwürdigen, von Vertrauen und Anerkennung geprägten Beziehung zu Kindern und Jugendlichen.
Nicht vielen gelang es so wie ihm, auf dem Boden und damit authentisch zu bleiben, trotz seines großen Werkes.
Und es hallt nach … wie ein Stein, den man ins Wasser wirft, so zieht auch sein Wirken immer größer werdende Kreise.
Ich lernte seine Arbeit kennen, als ich selbst an einem Punkt war, wo ich zwar eine Ahnung hatte, dass sich grundlegend etwas ändern durfte, nur wusste ich nicht was.
Ich war in einer Sackgasse.
Es war eine Zeitschrift mit einem Artikel von ihm, der mich sofort in Bann zog und nicht mehr losließ. Er sprach mir aus der Seele und fegte all den Unfug weg, den so viele vor ihm mir einzureden versucht hatten.
Es folgten weitere Artikel und sämtliche Videos auf YouTube.
Ich fühlte die Erleichterung der Kinder, endlich gehört, gesehen und verstanden worden zu sein. Schließlich lebt auch in mir noch das Kind von damals, welches, wie so viele andere, reglementiert und falsch gemacht wurde.
Jesper Juul verstand es wie kein anderer, durch seine raue und dennoch herzliche Art die Dinge auf den Punkt zu bringen, ohne den anderen in seiner Person falsch zu machen.
Auch das ist etwas, was er mit meinem Verständnis gemein hat. Es geht nicht um Schuld, sondern um Verantwortung!
Schuld ist ein destruktives Konzept, welches uns eher davon abhält aus unseren Fehlern zu lernen. Denn Schuld zieht immer Scham nach sich. Und Scham kränkt uns in unserer Person als Mensch und erniedrigt so unseren Selbstwert.
Somit fühlen wir uns wertlos und etwas, was wertlos ist, darf nicht sein. Also eine existenzielle Bedrohung. Diese lässt uns eher wegschauen als an unseren Fehlern zu wachsen. Verantwortung hingegen macht Anteile sichtbar und lässt uns zu Gestaltern werden. Ein verantwortliches WIR anstatt ein schuldiges DU. Wir schauen so auf uns selber. Also dorthin, wo wir tatsächlich etwas verändern können.
Wenn jeder seine persönliche Verantwortung anerkennt und sich von Schuld frei macht, beginnt eine Transformation, die eine grundlegende Haltungsänderung mit sich bringt.
In einem Video von Helle Jensen und Jesper Juul geht es um die Intelligenz des Herzens.
Ich begreife diese als etwas Essentielles, das uns erlaubt unser Gegenüber nicht nur durch unsere persönliche Geschichte verzerrt zu sehen. Sondern uns die Möglichkeit gibt, in besonders präsenten Augenblicken den anderen wahrhaftig zu sehen und so eine Subjekt–Subjekt-Beziehung zu erfahren. Verbundenheit entsteht, wenn wir loslassen und den anderen in seinem „So-Sein“ akzeptieren und unser Erleben von ihm als Spiegel unseres Selbst erkennen.
Liebevolle Führung von Kindern und Jugendlichen beginnt mit liebevoller persönlicher Verantwortung. Wenn wir einmal erfahren haben, wie es sich anfühlt, wenn wir trotz des Gefühls von Schuld und Verletztheit uns unserer persönlichen Verantwortung liebevoll zuwenden und für sie eingestanden sind. Dann wird klar, was Würde bedeutet.
Ich habe Jesper Juul vor zwei Jahren persönlich kennen lernen dürfen. Er hat seine Erkrankung mit Würde getragen und hat sich durch sie nicht von seiner Berufung abbringen lassen.
Ich bin sehr dankbar für diese Begegnung und seine wertvolle Zeit, die er uns geschenkt hat.
An uns ist es, seine Vision in unserem Herzen zu tragen und so als Haltung in die Welt zu bringen!