Von der Autonomie des Lernens.
Es ist kurz nach dem Mittagessen.
Ich sitze mit meiner Tasse Espresso in der Hand und genieße die kurze Verschnaufpause.
Sarah läuft an mir vorbei zum Kühlschrank. Mit beiden Händen greift sie nach einem Magneten, der dort an der Tür hängt. Als sie ihn abzupft, fallen ein paar Fotos auf den Boden, welche mit dem Magneten befestigt waren.
„Schau mal, jetzt liegen die Fotos am Boden, ich will, dass du den Magneten am Kühlschrank lässt.“ Ich reagiere vorschnell aus meinem Bedürfnis heraus, die Fotos in der gewohnten Ordnung zu behalten.
Sarah reagiert nicht darauf und spielt unbeirrt weiter. Klick, Klack, immer wieder lässt sie den Magneten an den Kühlschrank zurückschnellen, um ihn dann wieder ganz zu lösen. Im ersten Moment fühle ich mich ignoriert und angegriffen.
Mein Kopf denkt: „Das macht sie doch extra, sie will mich austesten, sie nimmt mich nicht ernst.“
Lauter alte Gefühle klopfen an und wollen, dass ich mich verteidige. Dass ich ihr zeige, wer hier der Boss ist. Sie muss doch auf mich hören.
Dennoch halte ich inne und schaue zu, wie sie dasteht und immer wieder diesen Magneten vom Kühlschrank zieht, um ihn gleich wieder daran springen zu lassen.
Endlich begreife ich. Sie scheint ganz fasziniert davon zu sein. Sie ist so vertieft darin, dass sie mich überhaupt nicht wahrnehmen kann. Für sie ist es sehr wichtig, diese Erfahrung zu machen. Es ist IHR Lernfeld.
Da können die Fotos auch noch warten. Ich wende mich ihr zu und teile ihr meine Erkenntnis mit: „Ah, das ist gerade sehr spannend für dich.“
Sie reagiert immer noch nicht.
Mehr für mich, ergänze ich: „Ok, dann lass ich dich eine Weile damit spielen und hänge die Fotos später wieder auf.“
Mit dieser Erkenntnis fühle ich mich nun selbst wieder wohl. Vor allem, weil ich in meiner persönlichen Verantwortung geblieben bin.
Ich habe selbstbestimmt von meinem Bedürfnis Abstand genommen und für mich eine andere Priorität entwickelt. Meine Integrität bleibt gewahrt und ich fühle mich integer und verbunden.
In solchen Momenten wird mir immer wieder gewahr, was es bedeutet, als Gestalter zu handeln und zu fühlen. In diesen Momenten entstehen keine Opfer und es gibt auch keine Täter. In solchen Momenten entsteht Frieden, trotz unterschiedlicher Bedürfnisse.
Konflikte entstehen durch Bewertungen und Überzeugungen, „etwas sollte so oder so sein.“ Indem ich meine Bewertung und Überzeugung aus mir selbst heraus verändern konnte, löste sich auch mein Konflikt. Ja, es war mein Konflikt und lag somit auch in meiner Verantwortung.
Wäre ich bei meiner Überzeugung geblieben, wäre auch mein Bedürfnis geblieben.
Hätte ich Sarah dann dennoch mit dem Magneten spielen lassen, hätte ich es getan, um den Konflikt zu vermeiden. Ich hätte wahrscheinlich dementsprechend resigniert oder patzig reagiert und ich hätte sie somit verantwortlich für meinen inneren Konflikt gemacht.
Wenn Bedürfnisse kollidieren, ist es gut, wenn wir unsere Perspektive verändern können. Oft entdecken wir dadurch einen Fokus, der uns einen guten Weg für alle Beteiligten aufzeigt.
Was hilft, ist erstmal einen Schritt zurückzutreten. Innerlich und vielleicht sogar äußerlich.
Raus aus der eigenen Gefühls- und Gedankenbox. Und einen Blick von außen und aufs Ganze wagen.
Das geht ganz gut, indem ich meine Befindlichkeiten und Gedanken als etwas in mir an- und wahrnehme. Dann besteht die Möglichkeit, aus der Identifikation herauszutreten und weniger aus der Opfer-Täter-Haltung heraus zu agieren.