Er sitzt auf dem Boden. Sein kleines Gesicht ist vor Wut verzerrt. Sein kleiner Körper ist angespannt, als wollte er jeden Moment zerspringen.
Ich kann ihn nicht erreichen. Weder durch meine Worte noch durch gut gemeinte Berührungen.
Diese Hilflosigkeit macht mich wahnsinnig. Ich ertrage diesen Schmerz kaum, den sein Brüllen in mir auslöst. Es zeigt mir, dass mein Einfluss auf dieses kleine Menschlein in Wahrheit begrenzter ist, als mir lieb ist. Ich habe es nicht wirklich in der Hand, dass er seinen Weg findet. Dazu braucht es ihn.
So viel Persönlichkeit und Selbstverständnis in so einer kleinen Person.
„Ich bin und ich werde, aus mir selbst heraus. Weil ich es so will.“
Ich bin nur die Wegbegleiterin. Die so viel Anleitung wie nötig und so wenig wie möglich gibt.
Ich spüre seine Zerrissenheit und ein Bild steigt in mir auf. Eine Erinnerung aus meiner eigenen Kindheit.
Es ist, als wäre es gestern gewesen:
Ich saß auf dem Boden meines Zimmers und brüllte vor Wut.
Ich war gefangen. Gefangen in meinem inneren Kampf um Selbstbestimmtheit, dem natürlichen Drang nach Autonomie und damit dem Schutz meiner Integrität. Und auf der anderen Seite sehnte ich mich nach nichts mehr, als nach Trost. Trost von den Menschen, denen ich am meisten vertraute und die mir gerade den Kampf angesagt und meine Integrität untergraben hatten, indem sie meinen Drang nach Autonomie untersagten.
Ich fühlte mich ohnmächtig meiner eigenen Wut ausgeliefert. Die mich überrollte wie ein Orkan.
Hinter dieser Wut verbarg sich ein Gefühlscocktail aus Hilflosigkeit, Trauer und einer fast schon existenziellen Not.
Ich wusste, wenn ich meine Wut weiter herausbrüllen würde, bekäme ich die Ungeduld meines Vaters zu spüren.
Ich war mehr als verzweifelt und drohte an diesem Gefühlschaos zu ersticken. In meiner Ohnmacht zerbrach ich einen kleinen Holzlöffel. Nun kam noch die Trauer und der Schmerz über den zerbrochenen Löffel hinzu.
Ich weiß nicht mehr, aber es muss ewig gedauert haben, bis dieser tiefe Schmerz nachließ.
Das Schlimme daran war, dass ich mich allein gelassen und falsch fühlte. Ich interpretierte diese Gefühle als etwas Unnormales.
In dieser Situation mit dem kleinen Jungen wird mir klar, dass meine Hilflosigkeit daher rührt, dass ich mit meinem eigenen Schmerz in Berührung komme. Von dem ich gelernt habe, dass er nicht sein darf.
Dies ist der Moment, in dem etwas in mir aufatmet. Ein tiefer Seufzer löst sich, dringt aus meiner Kehle und ich werde innerlich ruhiger.
Es darf sein, dieser Schmerz, diese Wut. Das laute Brüllen. Es darf einfach sein.
Ich setze mich mit ein wenig Abstand neben ihn und gebe dem in mir Raum, was gerade da sein will. Und auf einmal ist es, als wandele sich diese Wut in eine ungeheure Kraft. Alle negativen Assoziationen sind verflogen. Und ich spüre nur noch die enorme Energie, welche diese Kraft in sich trägt.
Ich schaue auf das kleine Bündel Elend, was eben noch neben mir saß. Doch davon ist nichts mehr zu sehen. Zwar sitzt da immer noch ein kleiner Junge, aber er brüllt seine Wut mit einer Selbstverständlichkeit heraus, dass ich einfach nur baff bin. Ich spüre seine Kraft und Zuversicht darin. Der Wille, daran zu wachsen. Als spüre er, dass auch diese Erfahrung nur ein weiterer Schritt in Richtung einer reiferen Autonomie ist.
Nun kann er mich auch wieder wahrnehmen. Und dreht seinen Kopf, immer noch laut brüllend, zu mir und schaut mich an. Er zeigt mir offen seinen Schmerz. Ich breite meine Arme aus, ohne Erwartung an ihn. Dankbar sinkt er hinein. Erschöpft und noch mit leisem Schluchzen. Langsam merke ich, wie sich in seinem Körper eine tiefe Entspannung ausbreitet.
Ich kann ihm vertrauen und er mir. So geht Beziehung.